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Willi Dürrnagel: Das Gedächtnis Würzburgs

50 000 Bücher, 9000 Postkarten, 500 Bilder – der Hobby-Historiker sammelt alles über „sein“ Würzburg

 

Dass Würzburg ein eigenes Stadtmuseum gut zu Gesicht stehen würde – darüber besteht kaum ein Zweifel. Erst jüngst, nach der Absage für ein bayerisches Landesmuseum, war dieser Wunsch wieder lauter zu hören. Im Grunde genommen aber hat Würzburg bereits ein stadthistorisches Museum. Es befindet sich in einem Privathaus in der Sanderau und erstreckt sich über drei Stockwerke. Hausherr Willi Dürrnagel hat hier seit den 80er Jahren an die 50 000 Bücher mit Würzburg-Bezug, 9000 Würzburg-Postkarten und rund 500 Bilder von Würzburger Künstlern oder mit Motiven der Stadt gesammelt. 300 davon zieren alle verfügbaren Wände des Hauses.

Die Böden des Bücherregals im Wohnzimmer biegen sich durch. Was das geringste Problem ist. Wer freilich das Gewicht tausender Bücher in den oberen Geschossen verteilt, sollte an die Statik denken. Dürrnagel hat vorsichtshalber seinen Architekten eingeschaltet. Der gab – zumindest bei aktueller Last – Entwarnung: keine Einsturzgefahr. An den Wänden im Treppenhaus ist jeder Quadratzentimeter für Bilder genutzt: Dikreiter, Rostosky, Reitberger, Lenz, Jung, Lessig, Versl – die Namen der Maler lesen sich wie das Einmaleins der jüngeren Würzburger Kunstgeschichte. Einer, der es ihm besonders angetan hat, ist Albert Banska. Von ihm sind rund 70 Werke, überwiegend Holzschnitte, in Dürrnagels Privatsammlung.

In den oberen Gängen reihen und türmen sich beschriftete Schachteln mit Büchern. „Das hier ist das schlimmste Zimmer“, führt Dürrnagel den Besucher in sein Arbeitszimmer. Er hat es über und über vollgestapelt mit Büchern und Ordnern. Gut zugänglich ist nur der kleine Schreibtisch mit seinem Rechner darauf. Zwei bis drei Stunden täglich verbringt der langjährige Postbeamte mit Archivarbeit. Jedes Buch will in die Hand genommen, im Computer erfasst und verschlagwortet sein.

Rund 30 000 Fotos hat er eingescannt und auf den Festplatten abgelegt, ebenso wie die Unterlagen und Konzepte für seine Führungen und Vorträge: 20 hat er abrufbar. Er hält sie in Würzburger Einrichtungen der Erwachsenenbildung oder auf Einladung von Vereinen – wie zuletzt beim Obst- und Gartenbauverein Heidingsfeld. So viel Ruhe Willi Dürrnagel beim privaten Sortieren und Archivieren hat, so viel Umtriebigkeit entfaltet er in der Öffentlichkeit. Allein im vergangenen Jahr – sein erstes im Ruhestand – lud er zu 100 Stadtführungen mit verschiedenen Schwerpunkten ein.

Geld nimmt er dafür nicht. Sein Lohn sind Aufmerksamkeit und das Gefühl, seine Schätze und sein Würzburg-Wissen nicht für sich zu behalten: „Es hätte ja keinen Sinn, wenn ich nur für mich sammeln würde. Es sollen andere was davon haben.“ Insofern freut sich der Stadtkenner, wenn regelmäßig Schüler für Facharbeiten oder Historiker für ihre Promotion bei ihm um Einsicht in Dokumente und Bücher bitten. Etliche werden vom Stadtarchiv zu ihm geschickt. Die Zusammenarbeit, sagt Dürrnagel, klappe ganz gut.

Seine Frau toleriert die exzessive Sammelleidenschaft ihres Gatten – und dieser weiß das zu schätzen. Immerhin könnte ein frisch gebackener Ruheständler seine Zeit und das nötige Kleingeld auch in Urlaube und Reisen stecken. So aber hat er über 30 Jahre schätzungsweise mehrere 100 000 Euro für Bücher, Bilder und Gegenstände ausgegeben. Stolz zeigt er seine Alben mit kunstvoll gestalteten Würzburger Reklame- bzw. Verschlussmarken, die vor 100 Jahren auf die Rückseite von Briefen geklebt wurden. In 40 bis 50 Aktenordnern hortet er Zeitungsartikel über bedeutende Würzburger. Allein seine Alt-Würzburg-Postkarten-Sammlung trug er bisher für rund 100 000 Euro zusammen. Er hat Winzerfest-Programme ebenso abgeheftet wie nummerierte Wurfzettel des Oberbürgermeisters nach dem Krieg und Original-Urkunden von Komponist Hermann Zilcher. Sein persönlich wertvollstes Stück: Eine Originalausgabe von Max Dauthendeys „Letzter Reise“ aus dem Jahr 1918 – mit eingelegten Original-Fotos und Briefen des Würzburger Schriftstellers, den er ebenso verehrt wie Leonhard Frank.

Früher war Dürrnagel viel auf Versteigerungen, Flohmärkten und in Antiquariaten unterwegs. Während er dort nach Würzburg-Perlen fischte, wandte sich seine Frau Modegeschäften zu. Eine Shopping-Teilung, wie sie heute nicht mehr funktioniert: Immer mehr Stücke stöbert Dürrnagel übers Internet auf. Seine aktuelle Punktzahl auf „Ebay“ verrät: „Da muss ich schon 8000 Sachen gekauft haben.“ Eheliche Ausflüge sind somit seltener geworden. Mit seinem Abschied aus dem Arbeitsleben – nach 50 (!) Jahren bei der Post – denkt Willi Dürrnagel immer häufiger auch über die Zukunft seiner Sammlung nach. Natürlich wäre ihm – dem Mann aus der Gesellschaft – eine öffentlich zugängliche Bewahrung und Präsentation das allerliebste.

Akuter Handlungsbedarf besteht freilich nicht. Die Lust daran hatte einst der Würzburger Maler, Literat und Denkmalschützer Heiner Reitberger (1923-1998) in ihm geweckt. Die beiden gründeten in den 70er Jahren den Initiativkreis zur Erhaltung historischer Denkmäler in Würzburg, dem heute laut Dürrnagel noch 15 bis 20 Mitstreiter angehören.

Auch als Vorsitzender des TV 1873 Würzburg – mit einer Unterbrechung seit fast 30 Jahren – bleibt er gefordert, ebenso an der Spitze des Blindenobsorgevereins. Dürrnagel ist Mitglied in 54 Vereinen. Rekordverdächtig scheint diese Zahl, wie so vieles in seinem Leben.

So war er bei Antritt 1972 mit 25 Jahren das jüngste Stadtratsmitglied. Mittlerweile ist er der Dienstälteste. Dabei, sagt er, habe er immer sich selbst und seiner Linie treu bleiben wollen. Verbiegen der Partei wegen – für Dürrnagel ein Kündigungsgrund. 1970 war er – nach einer Gewerkschafts-Rundreise durch Polen – wegen Willy Brandts Ostpolitik in die SPD eingetreten. Sie vertrat er bis 1986 im Stadtrat, dann kam der Bruch: Er hatte öffentlich gegen die Besetzung der beiden WVV-Geschäftsführer-Posten mit Herbert Wolf und Karl-Heinz Utschig protestiert – ein Parteiengeschacher von CSU und SPD, wie Dürrnagel fand.

Er musste sich zwei Ausschlussverfahren der Sozialdemokraten stellen, gewann beide – verließ die Partei aber schließlich selbsttätig und ging zur Freien Wähler Gemeinschaft (FWG) an. Als diese 1990 Gymnasiallehrer Werner Fischer zum OB-Kandidaten machte, war Dürrnagel als FWG-Vorsitzender dagegen. Man warf ihn hinaus. 1993 gründete er mit den Unabhängigen Bürgern (UBW) seine eigene Gruppierung, im Stadtrat saß die UBW als Minifraktion. Ironie der Geschichte: Ausgerechnet jener Gerhard Franke, der einst Dürrnagels Ausschluss aus der SPD vorantrieb, landete nach Parteiquerelen in Dürrnagels UBW-Armen. Doch nur vorübergehend. Nach Frankes Wechsel zur Würzburger Liste verblieb Dürrnagel als „Ein-Mann-Gruppierung“ im Stadtrat. So isoliert schloss er sich im Herbst 2004 der CSU an, wurde Parteimitglied.

In der großen Fraktion verkörpert er besonders Anliegen des Denkmalschutzes. Mittlerweile genießt er ihn fast selbst – und, als Quereinsteiger, einen gewissen Sonderstatus in der CSU. Eine Rolle, die dem Selbstverständnis des Willi Dürrnagel entspricht. Dazu passt auch: In der Poststelle des Rathauses hat er noch ein eigenes Postfach. Als einziger in der CSU.

 

Mainpost

Andreas Jungbauer 06. Januar 2012

http://www.mainpost.de/regional/wuerzburg/Aktenordner-Historikerinnen-und-Historiker-Hobby-Kuendigungsgruende-Modegeschaeft;art735,6539378

Ca. 50 000 Bücher, mehr als 10 000 Ansichtskarten und ca. 500 Bilder 

 

 

 

Umfangreiche Würzburg-,   Max-Dauthendey- und Leonhard-Frank- Sammlungen